Nachricht | Die Russische Linke und der Krieg in der Ukraine

Alexey Sachnin Foto: Patric Bies

Das herrschende Regime in Russland dient den dortigen konservativen, rechten Kräften als Aushängeschild. Linke Werte und Sympathien sind jedoch tief in der russischen Gesellschaft verwurzelt. Diese „Linke“ wird von der herrschenden Klasse traditionell als das Hauptproblem wahrgenommen, das außergewöhnliche Lösungen erfordert. „Heute wird nur Putin in der Lage sein, in einem ‚linken Land‘ für eine ‚Rechtswende‘ zu sorgen, und das ist das Paradoxe an der Aufgabe, das neue Russland zu reformieren“, sagte Boris Titow, Chef des russischen Unternehmerverbands Delovaya Rossiya („Business Russland“) (https://www.interfax.ru/russia/224315), der bald darauf Beauftragter des Präsidenten für die Rechte der Unternehmer wurde, im Jahr 2011. Die liberale Opposition teilte seine Sicht der Dinge: „Unser Problem ist, dass Russland Land ein ‚linkes Land‘ ist und dennoch radikal liberale Reformen braucht“, erklärte Boris Nemzow, einer der schärfsten liberalen Kritiker Wladimir Putins.

Eine im Herbst 2021 durchgeführte Umfrage (https://riss.ru/upload/iblock/1b2/slzq532vxfsmrvzs377xhmkxgpe96qve/journal_223_72_01.pdf) ergab, dass „die Merkmale des ‚sozialistischen Gesellschaftsmodells‘ sogar unter den 14- bis 17-Jährigen von mehr als 50 % als vorrangig für die Entwicklung des Landes angesehen worden sind. Im Alter von 30–35 Jahren sind es bereits 60–65 % und unter den 55–65-jährigen Russen fast 80 %“. Während in den 1990er- und 2000er-Jahren „linke“ Werte und Ideen (soziale Gleichheit, staatliche Sozialgarantien, öffentliche Kontrolle über die Wirtschaft usw.) vor allem von Vertretern älterer Generationen geteilt wurden, ist 2010 ein starker Anstieg der Popularität dieser Ideen unter jungen Menschen zu verzeichnen. Einer Umfrage (https://riss.ru/upload/iblock/1b2/slzq532vxfsmrvzs377xhmkxgpe96qve/journal_223_72_01.pdf) zufolge zählten 68,4 Prozent der russischen Studenten soziale Gerechtigkeit und Gleichheit zu ihren vorrangigen Werten und 60,2 Prozent „Fürsorge für die Schwachen“. Im Jahr 2016 wünschten sich 66 Prozent der Befragten (https://fom.ru/Ekonomika/12784) die Mehrheit der russischen Unternehmen in staatlichem Besitz. Diese Zahl ist seit 2005 um 10 Prozent gestiegen.

In gewissem Maße wirkte sich dieses Vorherrschen „linker“ Werte in der Gesellschaft auch auf den Ausgang von Wahlen aus. So erhielten bei den Wahlen zur Staatsduma 2021 die formal kommunistischen und sozialistischen Parteien insgesamt 31 Prozent der Stimmen (https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahl_in_Russland_2021). Rechnet man die von den Beobachtern festgestellten umfangreichen Wahlfälschungen heraus, erhöht sich diese Zahl noch um das 1,5- bis Zweifache. Hinzu kommt, dass Millionen Menschen mit linken Ansichten entweder gar nicht gewählt haben (die Autorität des Wahlsystems ist sehr gering) oder sich aufgrund des Drucks von Arbeitgebern oder lokalen Behörden gezwungen sahen, für die Präsidentenpartei „Einiges Russland“ zu stimmen.

Die Behörden im Allgemeinen wie auch Präsident Wladimir Putin persönlich haben die linke Gesinnung der Gesellschaft jahrelang ausgenutzt durch Sozialleistungen, die die soziale Ungleichheit nicht verringerten, sondern eine paternalistische Abhängigkeit der armen Bevölkerungsschichten von den Behörden schufen, sowie durch das anhaltende propagandistische Ausschlachten der historischen Erinnerung an die Sowjetzeit. Die ideologische Imitation wurde ergänzt durch ständigen Druck auf die politischen Parteien. Sukzessive wurden ihre Autonomie beschnitten und ihre Anführer zu gehorsamen Dienern der Präsidialverwaltung gemacht. Andersdenkende wurden rücksichtslos aus der legalen Politik ausgeschlossen oder Opfer von Repressionen. In diesem Zustand befand sich die Linke zu Beginn des Krieges in der Ukraine. 
 

Krieg auf Kosten der Arbeiterklasse

Seit Ausbruch des Krieges stehen die beiden wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen, die traditionell politisch links orientiert sind, in stillschweigender Opposition zum aggressiven Kurs der Regierung. Soziologische Studien zeigen, dass die Unterstützung des Krieges in den Gruppen der ärmsten Befragten sowie unter jungen Menschen am geringsten ist (https://www.extreamscan.eu/). „Menschen mit geringem Einkommen sind stärker über die Militäroperation besorgt, weil sie erwarten, dass sich ihre materielle Situation dadurch weiter verschlechtern wird“, so die Forscher. Die Ergebnisse hängen von der Formulierung der Fragen sowie dem Zeitpunkt der Umfrage ab. Im März 2022 gaben beispielsweise 69 Prozent der Befragten mit hohem Einkommen an, sie unterstützten Putins Entscheidung, während nur 17 Prozent von ihnen dies nicht taten. Unter den Befragten mit niedrigem Einkommen fiel die Unterstützung Putins um 20 Prozent geringer aus, und 31 Prozent der Armen verurteilten den Krieg trotz Zensur und Repression ausdrücklich. Bürger unter 29 Jahren bildeten die einzige Gruppe, in der eine Mehrheit die „Spezielle militärische Operation“ von Anfang an ablehnte.

Während der fast zwei Jahre des Krieges ist die Popularität der Militäroperation in allen sozialen Schichten gesunken. Im Oktober 2023 überstieg der Anteil der Befragten, die sofortige Verhandlungen präferieren, erstmals die Zahl derer, die eine Fortsetzung der Kämpfe für notwendig halten (https://www.extreamscan.eu/). Die Kriegsmüdigkeit nimmt zu.

Zugleich sind es die Hauptgruppen der Linken – die Jugend und die Armen –, die die größte Friedensliebe aufweisen. Von den jüngsten Befragten (18 bis 29 Jahre) sind 63 Prozent für sofortige Verhandlungen und nur 21 Prozent für die Fortsetzung des Krieges. Hinsichtlich der Vermögens- und Einkommensungleichheit ist dasselbe Muster zu beobachten. Relativ wohlhabende Russen befürworten den Krieg eher (58 Prozent sind für die Weiterführung und nur 37 Prozent für Verhandlungen), während die Armen den Frieden wollen (54 Prozent sind für Verhandlungen, 32 Prozent für den Krieg).

Selbst vor dem Hintergrund von weitverbreiteter Repression, Zensur und Wahlfälschungen haben die Regionalwahlen im September gezeigt, dass Kandidaten, die in ihrem Wahlkampf militärisch-patriotische Rhetorik verwendeten, deutlich weniger Unterstützung erhielten als diejenigen, die den Krieg einfach ignorierten. Am skandalösesten war die Niederlage des Kriegsveteranen Sergei Sokol, der mit Unterstützung des Kremls für das Amt des Gouverneurs von Chakassien kandidierte. Leider half die Kriegsmüdigkeit den linken Parteien nicht, zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Im Gegenteil, auch ihre Kandidaten verloren an Unterstützung. Schließlich entpuppten sich die parlamentarischen Linken als glühende Befürworter von Putins Abenteuer.
 

Linke für den Krieg

Die größte parlamentarische kommunistische Partei, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation, unterstützt den Krieg nicht nur, sondern wurde zu einem seiner Hauptpropagandisten. Für dieses Phänomen gibt es zwei Gründe.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1993 stand die Partei auf der Plattform des „Staatspatriotismus“. Ihr Programm und ihre Propaganda basierten auf einem starken Staat, einer mächtigen Armee, dem „Kampf der zwei Zivilisationen“ (der westlichen und der russischen), der Slawophilie sowie dem politischen und kulturellen Anti-Westismus. Dies war eine bewusste Entscheidung: Die KPRF beanspruchte für sich die Anführung der „links-patriotischen“ Opposition. Selbst die UdSSR, deren Verklärung den Kommunisten jahrzehntelang die Stimmen der älteren Wählerschaft eingebracht hatte, wurde in erster Linie als „das rote Reich“ und nicht als radikales sozialistisches Experiment verstanden.

Während diese Ideologie zur Zeit der radikalen liberalen Reformen und der pro-westlichen Politik der Regierung Boris Jelzins die Kommunistische Partei gegen das herrschende Regime aufbrachte, wurde der „Patriotismus“ nach der Machtübernahme Wladimir Putins zu einer Plattform für das stillschweigende Bündnis der Kommunisten mit den Behörden und in noch stärkerem Maße mit Organisationen und Vertretern des „nationalen Kapitals“. Vom Verteidiger der Armen und Vertreter der Lohnabhängigen wurde die KPRF zu einer Partei der protektionistischen Industriepolitik und zum Unterstützer der Interessen des militärisch-industriellen Komplexes.

Zweitens war die KPRF eine Geisel des unter Putin aufgebauten autoritären Systems. In der Praxis bedeutete dies, dass die Führung der KPRF, um ihren Einfluss, ihre Sitze in den föderalen und regionalen Parlamenten und ihren Status als zweitstärke Partei des Landes aufrechtzuerhalten, weniger auf die Beliebtheit bei den Wählern als vielmehr auf gute Beziehungen zur aktuellen Regierung bedacht war. Die Präsidialverwaltung hatte ein entscheidendes Mitspracherecht bei der Genehmigung der Wahllisten der KPRF für Wahlen auf allen politischen Ebenen. Auf Verlangen des Kremls schloss die Partei allzu radikale Kandidaten kurzerhand von den Wahlen und/oder aus ihren Reihen aus. Bis 2022 war die Autonomie der Duma-Kommunisten auf ein Minimum geschrumpft. Ein scharfer Konflikt mit dem Kreml würde unweigerlich ihren politischen Tod bedeuten und für viele ihrer Mitglieder Repressionen nach sich ziehen.

2014 verurteilte die KPRF den Maidan in der Ukraine. Dafür gab es verschiedene Gründe, unter anderem die Repressionen gegen die dortige Linke. In der russischen Innenpolitik schuf dies eine bequeme Nische für die Partei. Sie kritisierte die russische Führung „von rechts“ – dafür, dass sie nicht entschlossen genug in den Ukrainekonflikt eingriff. Jahrelang forderten die Kommunisten, „die Menschen im Donbass zu schützen“, das heißt, die aufständischen Regionen in der Ostukraine an Russland anzugliedern, um ihren Bewohnern die sozialen Garantien und die Sicherheit zu gewähren, die ihnen die Regierung in Kiew verweigerte. Im Jahr 2022 machten sich die Behörden diese Rhetorik der Kommunisten zunutze. Sie durften in der Duma einen Gesetzentwurf zur Anerkennung der sogenannten „Donezker und Luhansker Volksrepubliken“ einbringen, und plötzlich stimmte die Mehrheit im Parlament dafür. Die Putin-Regierung hatte durch ihre Duma-Opposition einen Krieg ausgelöst.

Dennoch gab es in der KPRF viele Kriegsgegner. Die „Front“ griff sogar auf das parlamentarische Korps über. Am 25. Februar 2022 äußerte der KPRF-Duma-Abgeordnete Oleg Smolin Zweifel an der Notwendigkeit der Anwendung militärischer Gewalt in der Ukraine. Ein weiterer kommunistischer Abgeordneter, Michail Matwejew, forderte einen sofortigen Stopp der Invasion. „Ich habe für die Anerkennung der ‚DVR‘ und ‚LVR‘ gestimmt, ich habe für den Frieden gestimmt, nicht für den Krieg. Ich habe dafür gestimmt, dass Russland ein Schutzschild wird, damit der Donbass nicht bombardiert wird, und nicht dafür, dass Kiew bombardiert wird“, erklärte er (https://www.severreal.org/a/deputat-gosdumy-golosovavshiy-za-priznanie-ldnr-vystupil-protiv-voyny/31724579.html). Eine ähnliche Position vertrat der einflussreiche Abgeordnete Wjatscheslaw Markhajew. Viele Leiter regionaler Abteilungen der Kommunistischen Partei, Abgeordnete der gesetzgebenden Versammlungen und kommunistische Politiker gaben ähnliche Erklärungen ab. Etwa 600 KPRF-Abgeordnete unterschiedlicher politischer Ebenen unterzeichneten einen offenen Brief „Kommunisten und Sozialisten gegen den Krieg“ (https://rabkor.ru/columns/events/2022/03/04/manifesto_of_the_coalition_socialists_against_war/). Diese Stimmen wurden jedoch schnell erstickt: Die Andersdenkenden wurden sowohl von der Parteiführung als auch von lokalen Repressionsorganen unter Druck gesetzt.

Einige populäre Politiker der KPRF – unter ihnen der ehemalige Gouverneur der Region Irkutsk und Duma-Abgeordnete Sergej Lewtschenko, der Schriftsteller Sergej Schargunow, der Präsidentschaftskandidat von 2018, Pawel Grudinin, und andere – zogen es vor, eine „abwartende Haltung“ einzunehmen. Seit mehr als 20 Monaten haben sie keine öffentlichen Erklärungen abgegeben oder an Parlamentssitzungen teilgenommen, in denen repressive Gesetze oder neue Militärdarlehen verabschiedet wurden. 

Diejenigen, die nicht bereit waren zu schweigen, mussten mit Repressionen rechnen, zunächst vonseiten der Partei. Jewgeni Stupin, ein populärer Politiker aus der Hauptstadt und Mitglied der Moskauer Stadtduma, wurde wegen seiner Antikriegshaltung aus der Partei ausgeschlossen (sein YouTube-Kanal hat inzwischen 400.000 Abonnenten, und er ist einer der beliebtesten linken Politiker). Die Solidaritätskampagne, bei der Kommunisten in Moskau und anderen Regionen Russlands Videos zu seiner Unterstützung aufnahmen, half Stupin nicht. Das Justizministerium erklärte ihn bald zum „ausländischen Agenten“. Die regierungsnahen Medien forderten seine Verhaftung oder gar Ermordung. Auf der Liste der „ausländischen Agenten“ landeten auch Wladislaw Schukowski, ein populärer linker Wirtschaftswissenschaftler, der der KPRF nahesteht, sowie der ehemalige Parlamentskandidat Michail Lobanow.

In vielen Regionen kam es zu Säuberungen in den Parteiorganisationen. Insgesamt wurden Hunderte Aktivisten aus der Partei und ihrer Jugendorganisation ausgeschlossen, weil sie den Krieg nicht befürworteten. Es kam zu Massenaustritten aus der Partei: In der Stadt Surgut gaben 57 Kommunisten ihre Parteimitgliedsausweise ab.

Der Krieg führte auch zu einer Spaltung der außerparlamentarischen linken Organisationen. Die Linksfront zum Beispiel machte in einer Erklärung allein die Politik der USA und der NATO sowie die globale neoliberale Ordnung und „gierige und rücksichtslose Vertreter des Weltkapitals“ für den Krieg verantwortlich. Eine abweichende Minderheit (etwa 20 Prozent der Aktivisten), angeführt von einem der Koordinatoren der Organisation, Alexei Sakhnin, trat aus der Organisation aus. Daneben gibt es diejenigen, die das Kriegsgeschehen nicht mit ihrem moralischen Koordinatensystem vereinbaren können und ihr Land als Aggressor bezeichnen. Diese Leute klammern sich an Fetzen von Propagandaklischees, um das Wesentliche nicht sehen zu müssen: Es war die Putin-Clique, die eine bewaffnete Aggression in einem noch nie dagewesenen Ausmaß entfesselte. Das ist der zentrale Fakt. Man kann ihn nicht mit feigen Verweisen auf die Intrigen amerikanischer Imperialisten (und davon gibt es einige!) oder die Verbrechen der ukrainischen Ultrarechten (und davon gibt es viele!) verschleiern oder das Blut Unschuldiger in Charkiw, Odessa und Kiew mit dem in Donezk und Luhansk vergossenen Blut rechtfertigen.

Zwei weitere relativ große Organisationen – die Kommunistische Arbeiterpartei Russlands und die Vereinigte Kommunistische Partei – verurteilen den Imperialismus an sich, unterstützen aber die „Sonderoperation“ und bezeichnen sie als „gerechten Kampf des Volkes von Donbass“ und „antifaschistischen Kampf“. Den Führern dieser Parteien zufolge müssen Kommunisten den vom russischen Kapital geführten Krieg „kritisch“ unterstützen, da er „antiimperialistisch“ sei, sich gegen die „unipolare Welt“ richte usw. Wie viele andere linke Kriegsbefürworter berufen sich RKRP und UKP häufig auf die im Donbass beliebten Symbole aus der Sowjetzeit – rote Fahnen, das Wappen mit Sichel und Hammer, Lenin-Denkmäler –, deren Erhalt von der offiziellen russischen Propaganda aktiv unterstützt wird. Wenn kommunistische Symbole in der Ukraine verboten sind, nicht jedoch in Russland, so argumentieren die Vertreter der entsprechenden Positionen, dann sollte die kommunistische, „demokratischere Seite“ in dem Konflikt unterstützt werden.

Der langwierige Krieg hat sich für die kriegsbefürwortende Linke als Falle entpuppt. Die Führung der KPRF, die ihren unausgesprochenen Vertrag mit dem Kreml erfüllt, spielt die radikale Flanke der „Kriegspartei“, was jedoch zunehmend die Restpopularität der Partei untergräbt. Ihre Rhetorik gleicht sich mehr und mehr dem Propaganda-Mainstream an und findet immer weniger Resonanz auf die Forderungen der kriegsmüden linken Wählerschaft. Gleichzeitig sitzen sowohl die Regionalpolitiker als auch der Großteil der Parteiaktivisten in einer Falle: Soziale Proteste und öffentliche Kritik an den Behörden sind unter Kriegsbedingungen praktisch verboten. Der Opposition ist es nicht gestattet, Veranstaltungen zu koordinieren (unter Berufung auf „Bekämpfung des Covids“). Die (früher sehr unfreien) Wahlen sind zu einer Farce geworden, und der Wahlkampf, die Stimmabgabe sowie die Auszählung der Stimmen stehen unter der totalen Kontrolle der Behörden. Die einzige zulässige Form von Engagement der kriegsbefürwortenden Linken sind „wohltätige Aktivitäten“, um „Hilfe für unsere Armee“ zu leisten – Geld für Waffen und Ausrüstung für die Soldaten sowie humanitäre Hilfe für die Bevölkerung in der Frontzone.

Linke Kriegsgegner


Selbst unter Repression und militärischer Zensur bildete sich in Russland eine linke Antikriegsopposition, die sich in den ersten Kriegsmonaten aktiv an Antikriegs-Straßenprotesten beteiligte.
Die Koalition „Sozialisten gegen den Krieg“ entstand an dessen ersten Tag, dem 24. Februar 2022, ihr gehörten mehrere kleine sozialistische und kommunistische Organisationen an: die trotzkistische „Russische Sozialistische Bewegung“, die „Revolutionäre Arbeiterpartei“, die „Marxistische Tendenz“, die konservativ-kommunistische „Union der Marxisten“, die „Neuen Roten“ und das „Werktätige Russland“, der anarcho-kommunistische „Linksblock“, die sozialdemokratische „Linke Sozialistische Aktion“ und andere. Der Koalition schlossen sich Aktivisten und Politiker an, die sich von größeren Organisationen abgespalten hatten, darunter auch populäre Abgeordnete der KPRF.

Die „Sozialisten gegen den Krieg“ versuchten, die Antikriegsstimmung innerhalb der KPRF sowie unter den Teilnehmern der sozialen Bewegungen zu bündeln. Die Koalition sammelte Unterschriften von Hunderten Lokalpolitikern unter einen offenen Brief gegen den Krieg und initiierte öffentliche Demarchen bei einer Reihe regionaler Abgeordneter, die den Krieg ablehnten. Im März/April und September 2022 organisierte sie nicht genehmigte Proteste gegen den Einmarsch in die Ukraine und die Zwangseinberufung in die Armee mit, die gewaltsam aufgelöst wurden. Hunderte Aktivisten wurden verhaftet. Viele Teilnehmer wurden direkt von den Polizeistationen zu den Rekrutierungszentren gebracht, wo sie in die aktive Armee einberufen wurden. Unter diesen Bedingungen flauten die Straßenproteste im Oktober 2022 ab. Der Kern der Aktivisten wurde unterdrückt (Boris Kagarlitsky) oder zur Auswanderung gezwungen (Jewgeni Stupin, Michail Lobanow, Alexej Sachin, Elmar Rustamow, Andrej Rudoy, Liza Smirnowa).

Auch Organisationen, die nicht der Koalition angehörten, versuchten, ihre eigenen Antikriegskampagnen zu starten. In der Regel handelt es sich um „Abspaltungen“ von größeren kriegsbefürwortenden „stalinistischen“ Parteien. Am 1. Mai 2022 fand in Nowosibirsk eine Kundgebung der linken Organisation „Rote Wende“ (einer Abspaltung der RKRP) statt. Es war die erste und bis dato einzige koordinierte Antikriegsaktion in Russland, die unter den Parolen „gegen den imperialistischen Krieg“ und „für den Frieden zwischen den Völkern“ stattfand. Die Zahl der Teilnehmer war jedoch gering: nur wenige Dutzend Menschen.

Zur Hauptaktivität der linken Antikriegsbewegung wurde die Agitation auf Telegram und YouTube. Einige Internetauftritte – der Blog von Evgeny Stupin, die Kanäle „Rabkor“, „Vestnik Buri“ etc. – haben Hunderttausende Abonnenten. Doch selbst bei äußerster Vorsicht ist eine solche Informationsarbeit mit dem Risiko von Repressalien verbunden. So wurde beispielsweise im Sommer 2023 Boris Kagarlitsky, Chefredakteur des Senders „Rabkor“, verhaftet und wegen „Aufrufs zum Terrorismus“ angeklagt (https://memopzk.org/figurant/kagarliczkij-boris-yulevich/). Am 29. November 2022 wurde der linke Aktivist Wladimir Timofejew (https://memopzk.org/figurant/vladimir-vladimirovich-timofeev/) in Irkutsk durchsucht und festgenommen. Er wurde bereits auf Grundlage zweier Artikel des russischen Strafgesetzbuches zu drei Jahren Haft in einer allgemeinen Strafkolonie verurteilt: wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ und der Verbreitung „falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte“ im Internet; er verbüßt seine Strafe. Die meisten anderen antimilitärischen linken Autoren und Blogger stehen auf den Listen der „ausländischen Agenten“ (Andrej Rudoj, Jewgeni Stupin, Alexandr Stefanow).

Linke Gruppen und Aktivisten, die sich gegen den Krieg stellten, befanden sich ebenfalls in einer Art Falle. Fast alle ihre üblichen Strategien und Praktiken – Teilnahme an Wahlkampagnen, soziale Proteste oder Streiks, Straßenproteste, akademische Aktivitäten und Online-Blogging – erwiesen sich im Kontext von Krieg und direkter Diktatur als unwirksam. Und sie waren nicht vorbereitet auf die Arbeit im Untergrund oder in der Illegalität. Die meisten Aktivisten verharren in Niedergeschlagenheit und beobachten das Geschehen nur. Aus psychologischer Sicht ist dies verständlich: Bei jeder öffentlichen Aktion drohen sofortige Verhaftung, eine lange Haftstrafe oder die Einberufung in den Krieg. Aber es gibt ein tiefer liegendes Problem: Die Antikriegs-Linke hat keine kohärente politische Strategie. 
 

Eine kleine Anzahl radikalster Gruppen versucht, den bewaffneten Kampf zu führen. In den 21 Monaten des Krieges gab es in Russland etwa 200 Anschläge auf Rekrutierungsbüros, mehrere Hundert Brandanschläge auf Relaisschränke und andere kleine Sabotageakte bei der Eisenbahn (https://zona.media/article/2023/07/27/voenkomat-in-court). Hinter den meisten dieser Anschläge stehen kleine linke oder anarchistische Gruppen oder verzweifelte Einzeltäter, die früher Mitglieder linker Organisationen waren (oder sich einfach in deren sozialen Netzwerken angemeldet haben).

Es gibt „radikale“ Experimente mit gegenteiligem Inhalt. Mehrere bekannte linke Aktivisten (auch aus dem Antikriegslager) haben sich als „Freiwillige“ bei der russischen Armee gemeldet. Ihre Beweggründe genau zu beschreiben ist schwierig. Sie treiben sowohl die Verzweiflung über die endlose Ohnmacht als auch die Auseinandersetzungen um die Beschlüsse der kleinen, isolierten Gruppen. Und die vage Hoffnung, im Moment eines hypothetischen „Zusammenbruchs des Regimes“ zu den Anführern der Soldatenmassen zu gehören („wenn das politische Subjekt der Wende irgendwann geboren wird, wird es hier, an der Front, geboren“, beschrieb es ein solcher Aktivist in einem privaten Briefwechsel). Natürlich spielen auch finanzielle Gründe eine Rolle. Die Armee bietet in Russland eine der wichtigsten Möglichkeiten, Geld zu verdienen.

Aber die meisten Kriegsgegner sind heute nicht in der Lage, einen persönlichen oder politischen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. Wie die meisten Russen, die des Krieges todmüde sind, haben sie keine Antwort auf die Frage, wie er beendet werden kann. Soll das russische Regime auf dem Schlachtfeld von der ukrainischen Armee und einer Koalition von NATO-Ländern besiegt werden? Gibt es im Lande eine Kraft, die den Krieg beenden und die Diktatur stürzen kann? Wo ist diese Kraft, wenn die städtische gebildete Klasse, die den Kern der oppositionellen Mobilisierungen bildete, besiegt wurde? Ist eine Revolution der Soldaten möglich? Und wenn ja, wie kann die Linke in einer Diktatur den Kontakt zu den Soldaten herstellen? Wer kann wie und wo ein Programm für einen demokratischen Frieden aufstellen?


Von den Antworten auf diese Fragen wird es abhängen, ob die Linke ihr Potenzial nutzen und zu einer Kraft werden kann, die Russland verändert.

Die linke Bewegung steht vor völlig neuen Herausforderungen. Einerseits hat sich in den fast zwei Jahren des Krieges die repressive Maschine um ein Vielfaches verschärft und verschont niemanden mehr; auf das liberale Segment der Politik folgte eine totale Säuberung des linken Spektrums der Gesellschaft (Boris Kagarlitsky, Vladimir Timofeev, Dutzende von Aktivisten in den Regionen). Auf der anderen Seite gibt es ein riesiges Publikum, das vor dem Hintergrund des Krieges und im Zuge des Krieges politisiert wurde – Russen, die für den Krieg in der Ukraine mobilisiert wurden, und ihre Familien, das heißt mehrere Hunderttausend Menschen.

Daraus ergibt sich natürlich die Schlussfolgerung, dass die Aufgabe der Kommunisten und aller Menschen mit linken Überzeugungen nicht nur darin besteht, eine Sprache und angemessene Formen der Kommunikation mit diesem Publikum zu finden, sondern auch ein Programm zu formulieren, das den Interessen dieser Menschen entspricht, und vieles wird von ihrer Stimmung und ihrer Position in der nahen Zukunft abhängen. Auf diesem schwierigen Weg stellen sich mehrere wichtige Fragen: Wie kann der Krieg beendet werden? Zu welchen Bedingungen soll ein gerechter Frieden geschlossen werden? Mit welchen Mitteln kann der Dialog zwischen der Linken und den Mobilisierten aufgebaut werden? Wie kann die Sichtweise der Mobilisierten und aller Menschen, die durch Betrug in den Krieg gelockt wurden, der Mehrheit der Bevölkerung vermittelt werden?

Ein solches Programm kann als Projekt zur Beendigung des Krieges wie auch als eine Vorstellung der zukünftigen Weltordnung von links für die breite Masse bezeichnet werden. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die russische Linke zum ersten Mal seit vielen Jahren eine reale historische Chance hat.

ALEXEY SACHNIN wurde in den frühen 80er Jahren in Moskau geboren. Seine Eltern waren Teil der Perestroika-Welle, die Russland überrollte. Seit seinem 10. Lebensjahr wurde er zu jeder erdenklichen Demonstration zur Verteidigung der Demokratie mitgenommen, sodass es unmöglich war, sich nicht mit der Politik zu beschäftigen. Doch als die "Demokratie á la Jelzin" siegte, war er, wie viele in unserem Land, enttäuscht von ihr. Und so wechselte Sachnin von der Politik zur Geschichte. An der Fakultät für Geschichte studierte er und verteidigte seine Dissertation über die Haupthelden der russischen politischen Geschichte, die Bolschewiki. Seit 2005 war er einer der Gründer und Koordinatoren der Linksfront. Nach dem 6. Mai 2012 war Sachnin gezwungen, nach Schweden zu gehen, wo er politisches Asyl erhielt.

Er schrieb Artikel und Bücher, wechselte den Job - von einem Forscher an einer Universität zu einem Matrosen auf einem Schiff. In Schweden machte er eine Art „Karriere“: Vom „Agenten des Westens“ wurde er zum „Agenten Putins“ - Angriffe in der lokalen konservativen Presse gab es genug. Im Jahr 2019 kehrte er in sein Heimatland zurück, nachdem das Verfahren wegen Verjährung eingestellt worden war. Im Jahr 2022 verurteilte er den Krieg und verließ die Linksfront. Er beteiligte sich an der Gründung der Koalition der Sozialisten gegen den Krieg. Seit Herbst 2022 wieder im politischen Exil, diesmal in Frankreich.

ELMAR RUSTAMOV wurde im Oktober 1990 in Moskau geboren und absolvierte das P.M. Ershov Institut für Theaterkunst. 2012 nahm er für die Partei KPRF an der Wahl der Abgeordneten für die Stadtverordnetenversammlung des Stadtbezirks Basmanny in Moskau teil. Zur gleichen Zeit wurde er mit dem Demyan-Bedny-Literaturpreis der Linksfront ausgezeichnet.

Arbeit als freier Korrespondent der gesellschaftspolitischen Zeitung „Molniya“, so wie als Autor und Moderator des You Tube-Kanal „Sowjetisches Fernsehen“.

Im Jahr 2019 - Fortbildung im Fachbereich „Geschichte und Philosophie der Wissenschaft“ an der Plechanow-Universität. Mitglied des Exekutivausschusses der Bewegung „Arbeitendes Russland“ und Sonderkorrespondent der Zeitung „Nowaja Alternativa“.

Es folgten weitere Veröffentlichungen bei: „Duel“, „Economic and Philosophical Gazette“, „Bulletin of Labour Russia“, „New Alternative“ usw.

Nach Februar 2022 Unterzeichnung der Anti-Kriegs-Erklärung des Runden Tisches linker Kräfte und Eintritt in die Koalition „Sozialisten gegen den Krieg“. Im September 2022 versuchte Rustamov sich als Einzelbewerber an der Wahl der Abgeordneten für die Stadtverordnetenversammlung der innerstädtischen Gemeindeformation Kuntsevo in Moskau, was ihm aber verweigert wurde.

Ende 2022 ging Rustamov ins politische Exil nach Paris und gab das Buch "Kommunisten im Zeitalter von Putin" heraus.