Nachricht | Gemeinsam bewegen im Saarland

Michael Quetting analysierte für die Zeitschrift Marxistische Blätter, wie das Bündnis „Nicht mit uns – wir frieren nicht für Eure Profite“ entstand.

Michael Quetting analysierte für die Zeitschrift Marxistische Blätter, wie das Bündnis „Nicht mit uns – wir frieren nicht für Eure Profite“ entstand.
Ausgabe: MARXISTISCHE BLÄTTER 3_2023
 
Anfang des Sommers 2022 stand im ver.di-Bezirksvorstand Region Saar Trier der Armutsbericht des Saarlandes zur Debatte. Bundesweit wurde über Entlastungspakete diskutiert, die saarländische Landesregierung stellte 1,7 Mio. Euro für »warmes Essen und warme Orte« für den kommenden Winter in Aussicht. ver.di sah die Notwendigkeit zum Handeln.
»Energiekrise, rasant steigende Inflation, Auswirkungen des Krieges gegen Russland, Klimakrise und Kriegsgefahr – all das darf nicht auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen werden«, hieß es in einer »Ideen-Skizze«. Man wolle ein »breites gesellschaftliches Bündnis bestehend aus Gewerkschaften, Kirchen, Sozialverbänden, demokratischen Parteien und sonstigen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen« anstreben, veröffentlichte diese Absicht, berief einen ehemaligen Gewerkschaftssekretär als Koordinator und lud zu einer Konferenz ein.
Die Notwendigkeit einer breiten gesellschaftlichen Allianz sah ver.di durchaus nicht nur uneigennützig, sondern – so die Konzeption – auch als Vorbereitung auf kommende Tarifauseinandersetzungen.
Während man sich in Saarbrücken an die Umsetzung des Planes machte und von einigen Kollegen die Kritik aufkam, dass zu viel Zeit zwischen Einladung, Konferenz und einer möglichen Demonstration läge, rief ver.di bundesweit »Solidarisch durch die Krise« zu dezentralen Kundgebungen auf. Einerseits war das erfreulich, weil ver.di damit auf Aktion setzte, andererseits ließ die inhaltliche Breite mit lediglich attac, BUND, Campact, Finanzwende, Paritätischer Wohlfahrtsverband und ver.di zu wünschen übrig. Außerdem war in Saarbrücken der Startschuss schon gefallen, so dass eine Umorientierung nur schwer vermittelbar gewesen wäre. Die lange Vorbereitungszeit erwies sich mehr als sinnvoll, Gewerkschaften in Gang zu bekommen braucht Zeit.
84 Vertreter:innen unterschiedlichster demokratischer Gruppen und Organisationen trafen sich am 29. September in der Arbeitskammer und gründeten unter der Losung »Nicht mit uns – wir frieren nicht für Eure Profite« ein breites demokratisches Bündnis, eine gemeinsame Plattform wurde erarbeitet und beschlossen.
Bewusst stahl man eine Überschrift, die sich der DGB am 11.09. in Erfurt für seinen Protest gegeben hatte, fügte allerdings das Wörtchen »Eure« noch ein, was den klassenkämpferischen Charakter ein wenig verstärkte. Ganz bewusst wurden Teile des zentralen ver.di-Aufrufes übernommen.
Der Einstieg beginnt mit den Lebenserfahrungen der Menschen, mit den »nicht mehr bezahlbare(n) Energiekosten und hohe(r) Inflation«. Man wolle nicht die »Zeche für die Krisen und den Krieg zahlen, während Superreiche Profite mit den Krisen machen«.
Inhaltlich wird betont, dass Soziales und Ökologisches nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Der Gegensatz Armut der Menschen und Gewinne der Konzerne wird deutlich benannt und mit Zahlen hinterlegt sowie eine »Gesamtstrategie für eine nachhaltige, bezahlbare Grundversorgung gefordert: Energie, Mobilität, Ernährung und Wohnen sowie soziale und kulturelle Teilhabe«.
Verlangt werden diplomatische Anstrengungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine. »Alle beteiligten Parteien brauchen Perspektiven auf eine neue gesamteuropäische Architektur der gemeinsamen Sicherheit.
Der neue weltweite Rüstungswettlauf muss gestoppt werden.« So der Text des geeinten Papiers. Es folgt eine klare Abgrenzung nach rechts: »Unser Bündnis hat nichts gemein mit rechten und reaktionären Kräften, die unseren Protest für eine menschenfeindliche Politik missbrauchen wollen.«
Schließlich wird dargestellt, dass die Beteiligten unterschiedliche Lösungen vom Energiepreisdeckel, Verbot von Energiesperren, Mieter:innenschutz, Übergewinnsteuer bis zur Vergesellschaftung fordern und dabei auch unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Sie vereine allerdings der Wille, »der galoppierenden Inflation sozial entgegen zu treten.«
Unsere Demonstration am 3. Dezember 2022 war mit 1.500 Teilnehmern für das kleine Saarland einer der größten sozialen Proteste seit vielen Jahren.
Es riefen 53 Gruppen bzw. Organisationsgliederungen auf. Dazu kamen drei Betriebsrats- und vier Personalratsgremien und zwei ver.di-Betriebsgruppen.
Unseren Aufruf unterzeichneten der DGB und die Einzelgewerkschaften IG Metall mit allen vier Verwaltungsstellen, IG BAU, NGG, GEW und ver.di. Schließlich riefen aber alle DGB- Gewerkschaften, also auch die IGBCE, EVG und GdP zur Teilnahme auf und gaben zwei eigene Massenflugblätter heraus. Das ist in dieser Form deutschlandweit außergewöhnlich. Gleichzeitig riefen auch die christlichen Gewerkschaften zur Demo auf und unterschrieben auch den Aufruf. Das gab es sonst in Deutschland nicht.
Mit dabei waren auch eine Reihe von ökologischen Vereinigungen wie Fridays for Future, Parents for Future, BUND Saar und Naturfreunde. Es gelang Klimaaktivisten mit den Kollegen der IGMetall, die für ihre Arbeitsplätze bei Ford kämpfen, zu vereinen.
Bemerkenswert, dass die verschiedenen politischen Richtungen der Arbeiterbewegung zu den Aufrufern zählten: die CDA, die AFA, die Arbeitskammer und auch linke Gruppen wie die Kommunisten oder die »4-Stunden-Liga«. Schließlich war die Demo durch die Teilnahme der Jugend geprägt. Auf Wunsch des Landesjugendringes hatten wir die Demo auf einen Nachmittag gelegt.
Eine weitere Besonderheit unseres Aufrufes war – wenn auch sehr umstritten – der kleine Absatz zur Friedensproblematik und gegen Hochrüstung. So waren eine Reihe von Friedensinitiativen, aber auch die beiden attac-Gruppen der Saar und auch die VVN-Bund der Antifaschisten dabei. Insbesondere das FriedensnetzSaar wurde mit einer Veranstaltung und öffentlichen Aktionen im Vorfeld beispielgebend aktiv.
Schließlich seien noch die sozialen Initiativen wie Wärmestube, Pädsak oder auch die Montagsdemonstranten erwähnt. Zwei Bündnisse, das Saarbrücker Bündnis »Genug ist genug« und das Trierer »Bündnis gegen Preissteigerungen« waren auch Teil unseres Bündnisses.
Außergewöhnlich waren die Bemühungen bei ver.di ganze Gremien der Interessenvertretung als Unterstützer zu gewinnen, was dazu führte, dass entsprechende Gremien ja Mehrheitsbeschlüsse fassten. Wo das nicht klappte, unterstützten dann die ver.di-Betriebsgruppen den Aufruf. Damit gelang in Ansätzen der Versuch, das Anliegen des Bündnisses in die Betriebe zu tragen.
Die Reden auf der Abschlusskundgebung, moderiert durch den höchsten saarländischen DGB-Funktionär, Timo Ahr, sollten die Breite der Bewegung abbbilden. Es sprach neben dem Vorsitzenden von ver.di, Frank Werneke, der Vorsitzende der Europäischen Linke, Prof. Heinz Bierbaum, und schließlich die Klimaaktivistin Susanne Speicher.
ver.di hat das Bündnis in sehr enger Abstimmung mit dem DGB geführt. ver.di war es wichtig, die gewerkschaftliche Handschrift deutlich sichtbar werden zu lassen. Bestimmte Dinge, wie z. B. die Rednerfrage wurde allerdings nicht demokratisch ausdiskutiert. Daran wäre das Bündnis auseinandergebrochen. ver.di hat also eine »autoritäre« Führungsrolle übernommen, wobei ver.di damit offen umging, niemanden ausgrenzte und allen beteiligten Gruppen auf der Basis des Aufrufes entsprechend Raum gelassen hat, mit eigenen Positionen zur Demo zu mobilisieren. So wurde eine neue Form gefunden, um sowohl die Eigenständigkeit wie das gemeinsame Anliegen darzustellen.
Folgende widersprüchliche Debatten mussten geführt und gelöst werden:
– Das Ziel, die gesamte DGB-Familie mit allen Einzelgewerkschaften ins Boot zu bekommen, war durchaus nicht einfach, zumal die Aktionsorientierung von ver.di nicht bei allen Schwesterngewerkschaften auf Begeisterung stieß. Die Autorität des DGB und seiner Gewerkschaften als Gestalter im sozialpolitischen Feld konnte somit deutlich gestärkt werden.
– Das zweite Problem galt den vermeintlichen Zielkonflikten zwischen der sozialen und der Umweltbewegung. Gerade die Angst vor Arbeitsplatzabbau in Zeiten von Transformation und zunehmender Digitalisierung schürt teilweise diffuse Ängste gegenüber der wachsenden Bedeutung ökologischer Fragen, zumal die Saarländer sich mit der Automobilindustrie in wichtigen Abwehrkämpfen befinden. Natürlich ist besonders die IGM in diesem wie auch im Stahl- und Metallbereich bestens organisiert. Hier die Gemeinsamkeiten im Auge zu haben und keine Seite abzuschrecken, muss Aufgabe jener sein, die ein Bündnis dieser Gruppen anstreben.
– Der größte Dissens war die Friedensfrage. Viele wollten sich dazu nicht äußern oder meinten, das würde der Mobilisierung schaden. Diese Debatte wurde insbesondere in den alternativ-grünen Gruppen diskutiert und führte auch dazu, dass Gruppen den Aufruf nicht unterschrieben und auch dagegen auftraten.
– Seitens der grünen, aber besonders der sozialdemokratischen Partei, wurde das Bündnis sehr kritisch gesehen. Namhafte Funktionäre meinten, der Text der Plattform sei »vergiftet« und schade der Sozialdemokratie, da diese ja die Bundesregierung führt und die Landesregierung stellt. Gleichzeitig hatte man Sorge, dass sich der Protest nach rechts entwickeln könnte. Aber man wolle den rechten Kräften das Feld nicht überlassen. Das war dann wohl das Hauptargument, warum schließlich die AFA die Unterstützung beschloss.
– Es wurden Bündnispartner gewonnen, die im »normalen« Leben nicht miteinander sprechen. So ist es DGB-Gewerkschaften nur schwer zu vermitteln, dass sie mit den ansonsten als Spalter bezeichneten christlichen Gewerkschaften gemeinsam demonstrieren sollen. Auch beide »Arbeitnehmerorganisationen« von CDU und SPD dabei zu haben, ist nicht alltäglich. Ferner der Umgang mit sogenannten Extremen, wie z. B. der DKP, ist ja nicht selbstverständlich und führte u. a. auf der Bezirkskonferenz von ver.di zu einer Diskussion.
– Einig war man lediglich in der Abgrenzung nach rechts, wobei das nicht einfach war zu definieren, was rechts ist. So war seitens jener Bürger, die sonntags unter dem Motto »Wir sind die rote Linie« gegen die Pandemiebeschränkungen demonstrierten, durchaus Interesse bekundet wurden. Dort werden Nazis nicht ausgegrenzt, was bei dem Bündnisspektrum möglicherweise heftige Diskussionen ausgelöst hätte. Da aber diese Aktivisten letztlich unseren Aufruf nicht unterschreiben wollten, mussten wir diese Auseinandersetzung nicht führen.
Trotz Breite und auch relativer Größe waren die Mobilisierung und die Teilnehmerzahl unbefriedigend. Warum war der Protest nicht stärker?
Viele betrachten die Politik der Bundesregierung als alternativlos. Die Aufrüstung, der Wirtschaftskrieg, die Energiekrise, die steigenden Lebensmittelpreise, die rapide Verarmung – für alles trage nun Moskau die Verantwortung. Jetzt sei eine »große nationale Kraftanstrengung« nötig, gebraucht würde »eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr«. Beschlossen wurde ein »Sondervermögen Bundeswehr« von 300 Milliarden Euro.
Die Teuerung kletterte in Folge des Krieges und insbesondere des Wirtschaftskrieges mit Russland, ob man ihn nun so nennen will oder nicht, auf ein Rekordhoch von über zehn Prozent. Vor allem die Preise für Energie und Lebensmittel schossen in die Höhe. Um den Anschein einer sozialen Abfederung zu erzeugen, bastelte die Ampel vier sogenannte Entlastungspakete in einer Gesamthöhe von rund 300 Milliarden Euro. Diese Entlastungsmaßnahmen der Regierung haben fraglos viele Menschen erst einmal vom Widerstand abgehalten. Nach unserem Treffen im September kam im Oktober der sogenannte »Doppelwumms«, die Kreditaufnahme von 200 Milliarden Euro zur Abfederung der Teuerung bei Strom und Gas.
Diese als »Geld vom Staat« bezeichnete Unterstützung wird zwar für alle angekündigt, erweist sich bei genauer Betrachtung aber auch als eine Form der weiteren Umverteilung von unten nach oben. Die Kriegs- und Krisengewinne sacken die großen Konzerne ein. Deswegen sind Forderungen nach Besteuerung von Profiten und Vermögen aus der Sicht der abhängig Beschäftigten richtig, denn Gewinne sprudeln gerade wegen des Krieges und der Krisen. So haben die börsennotierten Unternehmen rund 70 Milliarden Euro für ihre Aktionär:innen ausgeschüttet – 50 Prozent mehr als im Vorjahr.
Ernüchternd gilt es zu konstatieren, dass sich der Staat auf Protestszenarien gut vorbereitet hatte. Die intensive ideologische Bearbeitung der Bevölkerung begann bereits im Sommer, als man sich im Bundesinnenministerium und beim Verfassungsschutz offensichtlich darauf verständigt hatte, die erwartete Protestwelle entweder pauschal als »rechts« oder aber zumindest als »extremistisch« beeinflusst zu denunzieren. Im »Spiegel« teilte Bundesinnenministerin Nancy Faeser mit: »Demokratiefeinde warten nur darauf, Krisen zu missbrauchen, um Untergangsphantasien, Angst und Verunsicherung zu verbreiten.«
Die herrschende Politik nutzt geschickt den Umstand aus, dass politische Aktivierung oftmals nach rechts erfolgt. Medien und AfD benennen Regierungsmaßnahmen als »links«. Sollte irgendwo ein Rechter sich gegen Krisen äußern oder gar gegen den Krieg sein, schwups bekommt der linke Protest das Etikett »rechts« umgehängt. Weswegen durchaus demokratische Kräfte aus dieser Situation schließen, es verbiete sich eine  Protestmobilisierung. Dies trifft im besonderen Maße auf Freunde im linksliberalen, ökologischen und sozialdemokratischen Spektrum zu. Eine solche Analyse mag einiges erklären, manches auch nicht.
Wenn wir Mehrheiten wollen, um den Angriff auf unseren sozialen Standard zu verhindern, dann braucht es bei uns allen mehr Fähigkeiten zur Mobilisierung. Gerade mit Blick auf den notwendigen Transformationsprozess im Saarland muss dringend Interesse daran bestehen, die Zivilgesellschaft zum Schulterschluss mit den Kolleginnen und Kollegen bei Ford, in der Stahlindustrie und auch im Gesundheitswesen zu animieren. Warum sollte es nicht möglich sein, eine Hegemonie in der Gesellschaft für die Interessen der abhängig Beschäftigten zu erreichen?
Ein selbstkritischer Blick stünde auch den verschiedenen linken Gruppen gut zu Gesicht. Jene, die sich in Saarbrücken im Bündnis »Genug ist genug« vereint haben, kamen mit einer eigenen Zubringerdemo mit eigenen Losungen zur Demonstration. Das ist vielleicht selten, aber durchaus vertretbar wie auch die Losung »Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft«.
Wenn man sich dann allerdings – ähnlich den Römern bei Asterix – mit Transparenten wie in der bekannten Schildkrötenformation einigelt und lautstark die Sozialdemokraten als Verräter bezeichnet, wird das den vor sich laufenden Sozialdemokraten, der sich gerade in seinem Ortsverein dafür eingesetzt hat, dass man die Demo unterstützt, nicht gerade dazu bewegen, zu den revolutionären Truppen überzulaufen.
Bewusstsein entwickelt sich nun mal durch und in der Aktion. Also sollten wir alles dafür tun, damit Menschen in Aktion treten. Wir wollen unsere Inhalte ja auch wem mitteilen. Dabei gilt es stets an den berühmten Hinweis von Karl Marx in seinem Brief an Wilhelm Bracke im Zusammenhang mit der Kritik am Gothaer Programm zu denken: »Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.« (MEW 19, S. 13).
Es dürfte in der jetzigen Situation von entscheidender Bedeutung sein, wer die Aktionsbereitschaft weiter entwickelt und wie die fortschrittlichen Kräfte es verstehen, dies bewusstseinsverändernd zu nutzen. In diesem Sinne brauchen wir weitere Kraftanstrengungen. In der Verknüpfung von Frieden, Ökologie und Sozialem liegt der Schlüssel. Im Saarland verständigte man sich auf einer Konferenz des Bündnisses im Januar 2023 in unterschiedlicher Zusammensetzung an verschiedenen Themenkomplexen gemeinsam zu arbeiten. Insbesondere hatte man die Tarifauseinandersetzungen im Blick. Weitere Demonstration wurden prinzipiell nicht ausgeschlossen, allerdings plant man aktuell nichts konkretes. In lockerer Form wollen die Bündnispartner in Kontakt bleiben, heißt es.